Eröffnungsrede in der Leipziger Moritzbastei 14.10.99 Lothar Kusche (Schriftsteller)


Anno 1946 war Elizabeth Shaw, gebürtige Irin, Studentin an der Chelsea School of Art und bei dem später weltberühmten Maler Graham Sutherland, mit ihrem Mann, dem Bildhauer René Graetz, über den Ärmelkanal nach Berlin gekommen. Zum ersten Mal traf ich sie in der Redaktion einer mittlerweile fast vergessenen Zeitschrift für Literatur, Kunst und Satire; die hieß ULENSPIEGEL. Elizabeth war eine sehr anziehende junge Frau, zurückhaltend, schön ohne erkennbaren kosmetischen Aufwand. Der Ordnung halber sei festgestellt: sie blieb auch als reifere Dame sehr anziehend, zurückhaltend und schön.
Eine ihrer ersten Arbeiten für den ULENSPIEGEL zeigte vier halbwegs unglückliche Leute; eine Frau, die gegen den kalten Wind angeht, einen dünnen Mann mit einem dicken Rucksack, in dem vielleicht gehamsterte Kartoffeln oder Getreidekörner steckten, dahinter einen Menschen mit einer zweirädrigen leeren Karre, und einen anderen, der erschöpft auf einem Denkmals-Sockel hockt und die frierenden Hände in den Taschen seines alten Militärmantels zu wärmen sucht; das Denkmal ist demoliert, dem Pferd wie dem einst so stolzen Reiter fehlen die Köpfe, und der umgestürzten Siegesgöttin im Vordergrund nutzt ihr eiserner Schädel nun absolut nichts mehr.
Als jene Nachkriegswinter nach und nach ihre Trostlosigkeit verloren, kam auch Elizabeths angeborener Humor wieder zum Vorschein, ein Humor, der so wenig ulkig war wie ihre Satire aggressiv. Was sie vor fünfzig Jahren zu Papier brachte, war allerdings ein bißchen grimmig. Wir erblickten gewissermaßen eine grimmige Heiterkeit (falls Sie sich darunter etwas vorstellen können).
Heiner Müller rühmte die Grafik der Shaw als >>eine Kunst ohne Gewalt<<. Ein besonders überzeugendes Lob aus dem Mund eines Mannes, der gut Bescheid wußte - sowohl über die Kunst als auch über Gewalt. Und Müller fügte hinzu >>Sie lässt dem Betrachter viel Wahl, eine Freiheit nicht aus Deutschland.<< Bitte genau hinzuhören: sie läßt dem Betrachter viel Wahl, eine Freiheit nicht aus Deutschland. Werner KlemkeIn diesem Fall eine aus Irland (wo man solche Freiheit vielleicht gar nicht vermutet hätte).
Die Schöpferin zauberhafte Kinderbücher, die Karikaturistin und Illustratorin war eine unauffällige Meisterin. Sie verband in ihren oft sehr kleinen Zeichnungen die größtmögliche Einfachheit des Strichs mit einer unverwechselbaren pfiffigen Eleganz.
In jenen Zeiten, als die bildende Kunst zur Monumentalisierung drängte, genauer gesagt: gedrängt wurde, war das sehr erfrischend und wohltuend. Shaws berühmter Kollege Werner Klemke behauptete, Elizabeth besäße "nich mal´n anstänijen `Tuschkasten, sondern bloß ´ne ziemlich alte Blechschachtel mit´n paar Krümel Farbe drin. Das war mächtig übertrieben, aber nicht ganz abwegig. Einmal besuchte sie eine grosse Kinderbücherei, ich glaube in Dresden. Da gab´s einen beträchtlichen Andrang von minderjährigen Liebhaberinnen und Liebhabern ihrer lustigen Bilderbücher.


Man bat sie natürlich um eine Zeichnung fürs Gästebuch oder wenigstens um eine kleine Vignette mit Autogramm. Aber die Künstlerin hatte keinen Kugelschreiber in der Handtasche, geschweige denn einen Filzstift.
Nur ihren Charme hatte sie immer dabei; der war von trockenem Charakter (wie man ihn an vielen Sektsorten schätzt), und diesen Charme genossen auch die Kinder. Warum aber liebten ihre kleinen Verehrer Elizabeths Arbeiten? Da möchte ich Lothar Lang zitieren; der schrieb Anfang 1972 in der Weltbühne: "Elizabeth Shaw erzählt die Geschichten, die sie bebildert, noch einmal, aber das ist legitim, zumal ihr zeichnerischer Charme und Witz so groß sind, dass die Illustrationen schon allein ein Vergnügen bereiten, weil sie zeigen, was man mit einem Strich, mit einer Linie alles machen kann. Dass dabei gewisse Formtypen geradezu stereotyp wiederkehren, entspricht der Absicht solcher Kunst, sofort richtig verstanden zu werden. In dieser Hinsicht sind die Illustrationen und Bilderbuch-Zeichnungen, deren hoher künstlerischer Wert ausser Frage steht, einer bestimmten Folklore verpflichtet, etwa den alten Kasperlefiguren des Puppentheaters, deren physiognomischer Ausdruck ebenfalls unmißverständlich ist. " In den hellen und hohen Räumen ihrer Altbauwohnung, die nicht mit Möbeln vollgestopft war, konnte sich der Gast in Licht und Luft wohl fühlen – und leichter fühlen. Ein ganz klein bißchen Erdenschwere fiel lautlos von jedem ab, der da eintrat. Hier also, dachte ich, produziert die verehrte Dame – mit dem geringsten Aufwand an Kugelschreiberflüssigkeit und Filzstifteinlagen - ihren einmaligen Witz? Also das war wohl etwas komplizierter. Denn Witz kann man sich angewöhnen, man kann ihn üben und eventuell in einer Volkshochschule studieren. Besser ist es, wenn man ihn schon hat. Mit jener Grazie aber, die Elizabeths Witz so bekömmlich macht, muß man von Natur aus begabt sein. In der DDR konnten wir diesen graziösen Witz besonders gut gebrauchen. Weil er so knapp war. Und heute, meine Damen und Herren? Hand aufs Herz! Will jemand behaupten, daß wir in dieser unserer Gegenwart unter einer unermeßlichen Fülle von Heiterkeit und Anmut geradezu leiden müssen?
Typisch für Elizabeth war ihre friedliche und menschenfreundliche Reiselust. Weltkenntnis stärkt und belebte ihren Charakter. Nach dem zweiten Weltkrieg... hörte ich von einem Mann, der dank der verwirrenden Vielfalt von Reisedokumenten mit eines in rotes Leder gebundenen türkischen Speisekarte die halbe Welt bereiste. "Zuerst" sagte er, "muß man sich einen Einreisestempel für die Schweiz beschaffen, danach stempeln sie alle, je mehr Stempel, desto besser!"
Unsere Zeichen-Fee zitierte gelegentlich einen Satz aus Voltaires "Candide: Wir müssen unseren Garten bestellen." Und fügte hinzu: "Das wollte ich auch "Vielleicht war es ihr gegeben (wer will das wissen?) so knapp und leise wie mit den Menschen auch mit den Pflanzen zu sprechen. Carel Capek hat herausgefunden: "also 1.000 Jahre würde ein Gärtner brauchen, um alles, was ihm zukommt, auszuprobieren, zu bewältigen und praktisch zu verwerten. "So viel Zeit gab das Leben nicht her für unsere Berliner Freundin aus Irland. Aber sie hat uns alle einen großen Bildergarten vererbt, und darin sollten auch Sie, liebe Damen und Herren, ein bißchen spazieren gehen.