
Anno 1946 war Elizabeth Shaw, gebürtige Irin, Studentin an der Chelsea
School of Art und bei dem später weltberühmten Maler Graham
Sutherland, mit ihrem Mann, dem Bildhauer René Graetz, über
den Ärmelkanal nach Berlin gekommen. Zum ersten Mal traf ich sie
in der Redaktion einer mittlerweile fast vergessenen Zeitschrift für
Literatur, Kunst und Satire; die hieß ULENSPIEGEL. Elizabeth war
eine sehr anziehende junge Frau, zurückhaltend, schön ohne erkennbaren
kosmetischen Aufwand. Der Ordnung halber sei festgestellt: sie blieb auch
als reifere Dame sehr anziehend, zurückhaltend und schön.
Eine ihrer ersten Arbeiten für den ULENSPIEGEL zeigte vier halbwegs
unglückliche Leute; eine Frau, die gegen den kalten Wind angeht,
einen dünnen Mann mit einem dicken Rucksack, in dem vielleicht gehamsterte
Kartoffeln oder Getreidekörner steckten, dahinter einen Menschen
mit einer zweirädrigen leeren Karre, und einen anderen, der erschöpft
auf einem Denkmals-Sockel hockt und die frierenden Hände in den Taschen
seines alten Militärmantels zu wärmen sucht; das Denkmal ist
demoliert, dem Pferd wie dem einst so stolzen Reiter fehlen die Köpfe,
und der umgestürzten Siegesgöttin im Vordergrund nutzt ihr eiserner
Schädel nun absolut nichts mehr.
Als jene Nachkriegswinter nach und nach ihre Trostlosigkeit verloren,
kam auch Elizabeths angeborener Humor wieder zum Vorschein, ein Humor,
der so wenig ulkig war wie ihre Satire aggressiv. Was sie vor fünfzig
Jahren zu Papier brachte, war allerdings ein bißchen grimmig. Wir
erblickten gewissermaßen eine grimmige Heiterkeit (falls Sie sich
darunter etwas vorstellen können).
Heiner Müller rühmte die Grafik der Shaw als >>eine
Kunst ohne Gewalt<<. Ein besonders überzeugendes Lob aus dem
Mund eines Mannes, der gut Bescheid wußte - sowohl über die
Kunst als auch über Gewalt. Und Müller fügte hinzu >>Sie
lässt dem Betrachter viel Wahl, eine Freiheit nicht aus Deutschland.<<
Bitte genau hinzuhören: sie läßt dem Betrachter viel Wahl,
eine Freiheit nicht aus Deutschland. In
diesem Fall eine aus Irland (wo man solche Freiheit vielleicht gar nicht
vermutet hätte).
Die Schöpferin zauberhafte Kinderbücher, die Karikaturistin
und Illustratorin war eine unauffällige Meisterin. Sie verband in
ihren oft sehr kleinen Zeichnungen die größtmögliche Einfachheit
des Strichs mit einer unverwechselbaren pfiffigen Eleganz.
In jenen Zeiten, als die bildende Kunst zur Monumentalisierung drängte,
genauer gesagt: gedrängt wurde, war das sehr erfrischend und wohltuend.
Shaws berühmter Kollege Werner Klemke behauptete, Elizabeth besäße
"nich mal´n anstänijen `Tuschkasten, sondern bloß
´ne ziemlich alte Blechschachtel mit´n paar Krümel Farbe
drin. Das war mächtig übertrieben, aber nicht ganz abwegig.
Einmal besuchte sie eine grosse Kinderbücherei,
ich glaube in Dresden. Da gab´s einen beträchtlichen Andrang
von minderjährigen Liebhaberinnen und Liebhabern ihrer lustigen Bilderbücher.
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Man bat sie natürlich um eine Zeichnung fürs Gästebuch
oder wenigstens um eine kleine Vignette mit Autogramm. Aber die Künstlerin
hatte keinen Kugelschreiber in der Handtasche, geschweige denn einen
Filzstift.
Nur ihren Charme hatte sie immer dabei; der war von trockenem Charakter
(wie man ihn an vielen Sektsorten schätzt), und diesen Charme genossen
auch die Kinder. Warum aber liebten ihre kleinen Verehrer Elizabeths
Arbeiten? Da möchte ich Lothar Lang zitieren; der schrieb Anfang
1972 in der Weltbühne: "Elizabeth Shaw erzählt die Geschichten,
die sie bebildert, noch einmal, aber das ist legitim, zumal ihr zeichnerischer
Charme und Witz so groß sind, dass die Illustrationen schon allein
ein Vergnügen bereiten, weil sie zeigen, was man mit einem Strich,
mit einer Linie alles machen kann. Dass dabei gewisse Formtypen geradezu
stereotyp wiederkehren, entspricht der Absicht solcher Kunst, sofort
richtig verstanden zu werden. In dieser Hinsicht sind die Illustrationen
und Bilderbuch-Zeichnungen, deren hoher künstlerischer Wert ausser
Frage steht, einer bestimmten Folklore verpflichtet, etwa den alten
Kasperlefiguren des Puppentheaters, deren physiognomischer Ausdruck
ebenfalls unmißverständlich ist. " In den hellen und
hohen Räumen ihrer Altbauwohnung, die nicht mit Möbeln vollgestopft
war, konnte sich der Gast in Licht und Luft wohl fühlen
und leichter fühlen. Ein ganz klein bißchen Erdenschwere
fiel lautlos von jedem ab, der da eintrat. Hier also, dachte ich, produziert
die verehrte Dame mit dem geringsten Aufwand an Kugelschreiberflüssigkeit
und Filzstifteinlagen - ihren einmaligen Witz? Also das war wohl etwas
komplizierter. Denn Witz kann man sich angewöhnen, man kann ihn
üben und eventuell in einer Volkshochschule studieren. Besser ist
es, wenn man ihn schon hat. Mit jener Grazie aber, die Elizabeths Witz
so bekömmlich macht, muß man von Natur aus begabt sein. In
der DDR konnten wir diesen graziösen Witz besonders gut gebrauchen.
Weil er so knapp war. Und heute, meine Damen und Herren? Hand aufs Herz!
Will jemand behaupten, daß wir in dieser unserer Gegenwart unter
einer unermeßlichen Fülle von Heiterkeit und Anmut geradezu
leiden müssen?
Typisch für Elizabeth war ihre friedliche und menschenfreundliche
Reiselust. Weltkenntnis stärkt und belebte ihren Charakter. Nach
dem zweiten Weltkrieg... hörte ich von einem Mann, der dank der
verwirrenden Vielfalt von Reisedokumenten mit eines in rotes Leder gebundenen
türkischen Speisekarte die halbe Welt bereiste. "Zuerst"
sagte er, "muß man sich einen Einreisestempel für die
Schweiz beschaffen, danach stempeln sie alle, je mehr Stempel, desto
besser!"
Unsere Zeichen-Fee zitierte gelegentlich einen Satz aus Voltaires "Candide:
Wir müssen unseren Garten bestellen." Und fügte hinzu:
"Das wollte ich auch "Vielleicht war es ihr gegeben (wer will
das wissen?) so knapp und leise wie mit den Menschen auch mit den Pflanzen
zu sprechen. Carel Capek hat herausgefunden: "also 1.000 Jahre
würde ein Gärtner brauchen, um alles, was ihm zukommt, auszuprobieren,
zu bewältigen und praktisch zu verwerten. "So viel Zeit gab
das Leben nicht her für unsere Berliner Freundin aus Irland. Aber
sie hat uns alle einen großen Bildergarten vererbt, und darin
sollten auch Sie, liebe Damen und Herren, ein bißchen spazieren
gehen.
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